Homo Sapiens 404 Band 1 by Claudia Kern

Autor:Claudia Kern
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Rohde Verlag
veröffentlicht: 2013-02-07T05:00:00+00:00

7

Was mache ich denn bloß?

Dieser Gedanke war es, der Jourdain schließlich dazu brachte, stehen zu bleiben. Er keuchte, und sein Herz schlug zu schnell. Er wusste, dass es falsch gewesen war, aus dem Schlafsaal zu rennen, aber als die Toten plötzlich aus ihren Betten gefallen waren, hatte er nicht anders gekonnt. Die Angst hatte ihn überwältigt.

Nein, korrigierte er sich. Ich habe zugelassen, dass sie mich überwältigt.

Das war mehr als eine Kleinigkeit, es war der Unterschied zwischen einem Tier, das seinen Instinkten ausgeliefert war, und einem Menschen, dessen Verstand sich über sie hinwegsetzen konnte. Zumindest gelegentlich.

Jourdain lehnte sich an die Wand und atmete einige Male tief durch. Er hörte keine Schritte, niemand rief nach ihm. Der Gang, in dem er stand, war leer. Er konnte sich kaum an die letzten Minuten erinnern, war sich jedoch sicher, dass er durch die offenen Türen zurück in Richtung der Schleuse gelaufen war und an ihr vorbei. Irgendwo vor ihm befand sich die Antriebssektion, aber dort würde er nicht hingehen, nicht allein. Er musste zurück.

Sie werden mich auslachen und einen Feigling nennen, dachte Jourdain. In seiner Vorstellung sah er Lanzos spöttischen Blick und hörte Rins vorwurfsvolle Worte: Du hättest nicht weglaufen sollen. Wir achten schon darauf, dass dir nichts passiert. Er würde nicken, lächeln und sich entschuldigen. Selbst Erniedrigung war besser als der Tod. Und er würde sterben, wenn niemand auf ihn achtete, da machte er sich nichts vor. Er war nicht geschaffen für diese neue Welt mit ihren Jockeys und …

»Ich kann das Wort nicht einmal denken«, sagte er leise. Dann zwang er sich dazu: Zombie.

Es war ein hässliches Wort, respektlos, menschenverachtend und brutal. Kipling betrachtete es aus genau diesen Gründen als angebracht, aber Jourdain sah eine andere Seite der Toten. Für ihn waren sie nicht Täter, sondern Opfer. Keiner von ihnen hatte sich dieses Schicksal ausgesucht.

Er setzte sich seinen Helm auf und verriegelte ihn. Frische Luft strömte wie klares, kühles Wasser in sein Gesicht und spülte den Verwesungsgestank von seiner Haut. Ein grünes Licht blinkte kurz auf und zeigte an, dass der Anzug hermetisch verschlossen war. Auf allen Funkfrequenzen herrschte Stille. Er redete sich ein, dass das nichts zu bedeuten hatte.

Jourdain drehte sich um. Der Lichtkegel seiner Lampe verlor sich in der Dunkelheit vor ihm. Zögernd machte er einen ersten, dann einen zweiten Schritt. Sein Herz schlug wieder schneller, und er spürte Schweiß auf seiner Stirn. Sein Körper wehrte sich gegen die Entscheidung seines Verstands. Die Vorstellung, zurück in den Schlafsaal zu gehen, sich noch einmal dem Gestank und der Angst zu stellen, stach heiß in seinen Magen.

Ich kann das nicht, dachte er, während er einen dritten, vierten und fünften Schritt tat. Nie zuvor hatte er sich den Toten auf diese Weise stellen müssen. Er gehörte zu den wenigen Glücklichen, die evakuiert worden waren, bevor die Jockeys das gesamte Sonnensystem zur Quarantänezone erklärt hatten. Er hatte keine Familie gehabt, hatte weder jemanden zurücklassen, noch mit ansehen müssen, wie sich ein Mensch, den man ein Leben lang geliebt hatte, in ein Ungeheuer verwandelte. Umgebracht

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